Monday, July 30, 2007

Feuilleton
Stolpernder Schwarm
"Still Lives - Berlin". Ein soziales Tanzprojekt in den Sophiensælen

Doris Meierhenrich

Das ist eigentlich typisch", hört man eine Männerstimme, "ganz typisch. Aber auch ungewöhnlich. Ganz ungewöhnlich. Also ganz typisch und ungewöhnlich". Die salomonischen Sätze sind auf einer Leinwand in Leuchtschrift mitzulesen, wie Untertitel, während die Projektionsfläche darüber leer bleibt. Das alles könnte wunderbar den Auftakt eines Thomas-Bernhard-Dramoletts abgeben, doch spricht der Mann im Off nur das aus, was ihm gerade einfällt bei der Betrachtung der Fotografie "The Stumbling Block" ("Stolperstein"/ "Stein des Anstoßes") von Jeff Wall, die ihm irgendwo auf den Straßen Berlins jemand samt Mikro vor die Nase hält. Es ist ein dokumentarischer Original-Ton, der, zusammen mit dutzenden weiteren Kommentaren zum selben Foto, den Soundtrack bildet für die psycho-soziale Foto-Tanz-Recherche "Still Lives".

Eigentlich dreht sich also alles um ein rätselhaftes Bild, über das viel geredet wird, das aber selbst nie erscheint. Zum "Stolperstein" wird "The Stumbling Block" an diesem Abend allerdings in verschiedenem Sinne: nicht nur als Thema der Fotomontage, in der Jeff Wall vor gläsernem Hochhausturm eine Frau über einen auf dem Bürgersteig liegenden Mann stolpern lässt. Die alltäglichen Ungenauigkeiten und ideologischen Schubläden der Betrachter, die diese Szene beschreiben sollen, entlarven sich in den O-Tönen plötzlich als ganz eigene, bizarre Hindernisse.

Dem Prinzip "Stolperstein" folgt das gesamte Konzept der vier Choreografen, Tänzer und Performer Frédéric Gies, Manuel Pelmus, Bruno Pocheron und Isabelle Schad ohnehin, indem sie - auf der Suche nach Inhalten - divergente Formen kollidieren lassen. Von "horizontalen Arbeitsstrukturen", "prozessorientierter Praxis" und dem "Zirkulieren von Ideen und Körperpraktiken" ist im Programm zu lesen.

Und so zirkuliert und fließt denn auch alles in ihrem recht lebendigen, sozialen "Stillleben": die teilweise grotesken Bildbeschreibungen der Tonspur ebenso wie die fast vierzig Laien-Darsteller, die dazu auf der Bühne agieren. Alt und jung, dick und dünn, alle Tanzinteressierten konnten sich dafür melden. Wie diese vierzig sich nun zu einem Körper zusammenfinden, sieht gar nicht laienhaft aus. Der nach links und rechts wallende Menschenschwarm saugt die akustischen Einzelposten der Bildbeschreibungen auf und lässt umgekehrt aus dem Gesamtkörper immer wieder einzelne fallende, liegende Figuren aufscheinen. Zügig, nie zusammenstoßend, umsteuern sie einander, teilen sich so geschwind in Gruppen auf, wie ein gejagter Fischschwarm und erproben - erst uniform, dann durcheinander - das beschriebene Stolpern, Auffangen, Niederdrücken, Betrachten.

"Still Lives" ist eine vielgestaltige Lehrstunde über die Verfänglichkeit jeder Wahrnehmung. Doch bleibt sie auf halber Strecke stehen, da es über die unkritische Aneinanderreihung oberflächlicher Beobachtungen, Meinungen und Irritationen nicht hinausgeht. Das ist zwar amüsant, doch wabert am Ende amöbenhafte Unentschiedenheit.

Still Lives - Berlin, 26.- 29. Juli, 20 Uhr, Sophiensæle, Karten: 28 35 266
Berliner Zeitung, 23.07.2007

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