Die Künstlerplattform Good Work kreiert in „Still Lives“ Echoräume für Städte und ihre Bewohner
Text: Constanze Klementz
Im Zentrum von „Still Lives“, einem Projekt des internationalen, in Berlin basierten Kollektivs Good Work steht eine Fotografie, die man nicht sieht. „The Stumbling Block“ des Bildenden Künstlers Jeff Wall taucht nicht auf an einem Abend, der doch um diese Aufnahme kreist. Walls Bild zeigt scheinbar eine gewöhnliche Straßenszene vor dem Asphaltgrau großstädtischer Häuserschluchten. Jemand stürzt. Passanten laufen weiter. Manche sehen weg, andere hin. Doch warum trägt einer eine Art Eishockeyrüstung und sitzt ein anderer im Anzug auf dem Pflaster?
Charakteristisch für Wall treibt sein Foto Unschärfen und Risse in die Wirklichkeit, die es abzubilden vorgibt. Nicht auf materieller Ebene, die bleibt hochglänzend perfekt. Einen Produktionsaufwand von hollywoodschem Ausmaß bietet der Fotograf für jedes Motiv auf. Man kann das sehen. Es ist der Grund für die Verunsicherung, die von ihnen ausgeht. Die Bilder wirken zu präzise, um realistisch zu sein, selbst wenn sie nicht wie „The Stumbling Block“ die Plausibilität des Alltäglichen schon im Motiv außer Kraft setzen. Sie erzeugen eine Leerstelle inmitten ihrer Kunst-Wirklichkeit, denn sie re-inszenieren, ja choreografieren Szenen als reine Oberflächen. Zwar ist die Wirkung dramatisch, doch ruhen sie so provokant in sich, dass beim Betrachter die Maschinerie der Imagination umso reger in Gang gesetzt wird. Im Endeffekt „macht“ er oder sie den dargestellten Moment.
Die choreografische Inszenierung „Still Lives“ nutzt dieses Potenzial. Es berührt im Kern dieselben Fragen, die das von Isabelle Schad, Bruno Pocheron und dem Architekten Ben Anderson 2003 gegründete transdisziplinäre Produktionslabel zusammenhält. Können Körper die Macht der Bilder, in denen sie repräsentiert werden, unterlaufen? In welcher Hinsicht schafft jede Wahrnehmung von Realität eigene Realitäten? Und vor allem: Wie lässt sich die gesellschaftliche Verflochtenheit von Verhältnissen und Individuum, Kontext und Handlung künstlerisch ins Bewusstsein bringen? Good Work hat einen klaren politischen Standpunkt und daher die Form einer „horizontalen Arbeitsstruktur“, was bedeutet: Konzepte und Stücke werden gemeinsam als Gruppe entwickelt. Projektweise stoßen Tänzer und Lichtdesigner, Videokünstler oder Architekten dazu.
Wenn Schad, Pocheron und die Good Work verbundenen Choreographen Manuel Pelmus und Frédéric Gies für „Still Lives“ in europäischen Städten Menschen auf der Straße zur spontanen Bildbeschreibung auffordern, erhalten sie berührend persönliche Aussagen. Gerade weil es nie um private Befindlichkeiten geht, sondern immer um „The Stumbling Block“. Der Zugriff der Befragten auf das Bild bezeugt vor allem ihre eigene Perspektive, was sie umgibt, was sie bewegt: ökonomische Existenzangst, soziale Gewalt, theoretische Debatten, manchmal auch nur die Sattheit bürgerlicher Kunstbetrachtung. Trotzdem erzeugte „Still Lives“ mit jeder seiner bisher sieben Stationen in Bukarest, Halle, Lille, Essen, Berlin, Hannover und Antwerpen kein neues repräsentatives Städtebild, sondern imaginäre Landschaften.
Bereits in „California Roll“ (2006 auf der Tanzplattform Stuttgart) beschäftigten sich die drei Good-Work-Gründer und die Performerin Hanna Hedman, mit dem Phänomen der Landschaftlichkeit. Die Landschaftsmalerei der Renaissance verknüpfte mit dem Begriff die Wahl eines Ausschnitts, den ein Gemälde aus der natürlichen Gesamtheit trifft. Erst der Blick des Malers macht aus Natur ein spezifische „Landschaft“. Eine solche haben Schad, Hedman und Pocheron in „California Roll“ angelegt. Sie besteht, soweit das Auge reicht, aus Bergen von Kleidungsstücken, auf denen sich die Drei wie auf einer farbigen Palette bewegen. Körper schälen sich auf dem Untergrund heraus und versinken in der Fläche. Dem Moment, in dem sich ein Bild herstellt, gilt das Interesse, stamme es nun aus dem Fundus klassischer Malerei oder alltäglicher Körperassoziationen. Schon damals ging es um eine Durchlässigkeit der Grenze zwischen dem so genannten Künstlerischen und Realen.
Die gesellschaftliche Realität des Choreografen ist die choreografische Produktion. Aus dieser Überzeugung gehen bei Good Work künstlerische mit strukturellen Fragen Hand in Hand. Die Projekte spiegeln in der Methode ihrer Erarbeitung den aktivistischen Kern wider, der die lose Formation zusammenhält. Den Begriff „Kollektiv“ mit seinen missverständlichen Romantizismen benutzt Isabelle Schad ungern. Good Work entstand in einer Phase, als ihr selbst der Glaube an kollektives Produzieren gerade völlig abging. Ihr Solo „Switch Position Freeze Control“, eine Studie zum Thema Selbstbeobachtung, hatte sie 2001 auch deshalb allein realisiert. Trotzdem setzt sie sich mit Bruno Pocheron und Ben Anderson zusammen und formuliert ein Plädoyer, unter welcher Bedingung sich eine nicht-hierarchische Zusammenarbeit realisieren ließe. Es ist die heikle Balance zwischen Eigenständigkeit und Verantwortung. Die Drei verschickten den Text an Kollegen. Er wurde zum Gründungsmanifest von Good Work, mit dem die Cie. Isabelle Schad mittlerweile fusioniert ist.
„Still Lives“ ist das bisher größte Projekt von Good Work. Die Interviews werden choreografisch für die Bühne bearbeitet. Jeweils vor Ort bringt ein öffentlicher Aufruf freiwillige Laien vom Jugendlichen- bis Senioren-Alter zu einem Workshop zusammen. Einfache Bewegungsaspekte wie das Fallen, Gehen oder Stillstehen werden den Bildbeschreibungen entnommen und in Aktionsmuster für die Gruppe umgesetzt. Manchmal wirken sie theatralisch. Doch oft bilden das abwesende Bild, die ungemein körperlichen Stimmen und die anwesenden Körper einen erzählerischen Hohlraum, der in letzter Konsequenz mit so poetischer wie politischer Energie die Imagination des Zuschauers im Theater anspricht. Mit seinem Ausgreifen in Stadträume und seiner sinnlichen Dichte verbindet „Still Lives“ Kunst- mit Wirklichkeitserfahrung und stellt ihre gegenseitige Durchdringung zur Disposition.