Monday, July 30, 2007

zitty Online : Bühne - Vorbericht

Ich sehe was, was du nicht siehst

Die Frau fällt nach vorn. Der Grund ist ein Mann. Wie eine absurde Erscheinung, eine unförmige braune Raupe liegt er in einer Art Rüstung mit Helm mitten auf dem Gehsteig. Den Japaner mit Anzug und Aktentasche, der auf dem Bürgersteig sitzend vor sich hinstarrt, scheint das alles nicht zu interessieren. Im Hintergrund sieht man Hochhaus-Fassaden und Passanten. So könnte man anfangen, das Foto „The Stumbling Block” des bildenden Künstlers Jeff Wall zu beschreiben.

Und was sieht Isabelle Schad? Sie lacht. Seit Monaten zeigt die ehemals klassische Balletttänzerin, die später bei Wim Vandekeybus tanzte, Passanten in europäischen Städten Walls Straßenszene und lässt sie beschreiben, was sie sehen. Aber sie selbst, gesteht sie, hat das bisher noch nicht versucht. „Also da ist ein Typ in Eishockey-Montur. Eine Frau stolpert über ihn, aber ihr Gesicht ist leer, gar nicht überrascht.” Schon erwacht Protest unter den Kollegen. Frédéric Gies sieht es anders: „Die Frau realisiert einfach noch nicht, was passiert.” Also, wirft die Produktionsleiterin ein, sei sie doch überrascht?

Ich sehe was, was du nicht siehst. Manche halten den Mann im Eishockey-Harnisch für einen gestürzten Motorradfahrer, andere assoziieren einen Obdachlosen. Kein Bild ist einfach nur ein Bild, unabhängig von dem, der es betrachtet. Die Soziologie, die Philosophie oder Medientheorie hat das schon lange beschäftigt: Wer in die Welt schaut, tut das immer aus einem bestimmten Blickwinkel, und von diesem Winkel hängt ab, was man erkennen will und kann. Wer 100 Wörter für Schnee hat, wie es das Sprichwort von den Eskimos behauptet, sieht auch 100 verschiedene Schneearten.

Die choreografische Performance „Still Lives” des Kollektivs Good Work in den Sophiensælen macht das auf sinnliche Weise erfahrbar, ohne dass Wort und Bild einfach nur plump zur Deckung gebracht werden. Über 30 Berliner zwischen 20 und 70 Jahren, Profis und Laien mit den verschiedensten Lebens- und Arbeitshintergründen, haben zu den mitgeschnittenen Bildbeschreibungen der Berliner Passanten eine einfache Choreografie erarbeitet. Die Darsteller gehen, fallen, wie die Menschen bei Jeff Wall, dessen Foto sie natürlich ebenso wenig wiedergeben können sie die Passanten zuvor. Die Körper und die Stimmen ergänzen einander, aber sie illustrieren sich nicht. Was hier welchen Sinn macht, liegt einmal mehr im Auge des Betrachters.

Die Tänzer und Choreografen Frédéric Gies (Frankreich), Manuel Pelmus (Rumänien), Isabelle Schad (Deutschland) und den französischen Performer, Licht- und Bühnendesigner Bruno Pocheron interessierte ursprünglich, wie Menschen sich und ihre Umwelt wahrnehmen. Welches Bewusstsein haben sie für die eigene soziale und körperliche Realität? Der erste Versuch, das herauszufinden, ging schief. Die Künstler fragten nach, ganz direkt, auf der Straße. Doch das Gewicht von Begriffen wie „Körper-Repräsentation” und der didaktische Gestus einer solchen Umfrage verschreckten die einen, wenn sie unvorbereitet vor dem Gemüseladen oder beim Joggen im Park damit konfrontiert wurden. Andere beantworteten „Welches Verhältnis hast du zu deinem Körper?” mit ellenlangen Krankengeschichten.

Ein Filter musste her, eine Aufgabe für die Befragten, eine Wahrnehmung in Echtzeit. Die Passanten bekamen „The Stumbling Block” in die Hand gedrückt. Und plötzlich passierte es von allein: Die Bildbeschreibungen wurden zum Echo persönlicher Lebensumstände, von Ängsten, Wünschen, Hoffnungen, aber auch von Vorurteilen und Feindbildern. Störten sich in Berlin viele an den cleanen Hochhausfassaden und wünschten sich mehr Grün, wurden in Bukarest dieselben Glaspaläste mit Faszination als Kathedralen des Kapitals und das Versprechen von Wohlstand und Aufschwung betrachtet. In Lille sprachen die Menschen immer wieder über das Gewaltpotenzial, das in der Szene steckt – ein halbes Jahr vorher waren die Zusammenstöße der Polizei mit Jugendlichen in den Pariser Banlieues auch auf ihre Stadt übergesprungen.

Jeff Walls fotografische Pseudo-Wirklichkeit eignet sich so gut als Projektionsfläche, weil sie dem Betrachter den Anschein einer Normalität vortäuscht, die ihm auf den zweiten Blick Rätsel aufgibt. Zuerst wirken die Aufnahmen banal und alltäglich wie ein Schnappschuss. In Wahrheit werden sie vom Künstler mit immensem Zeit- und Materialaufwand, mit der Unterstützung ganzer Produktionsteams und sorgsam gecasteten Darstellern inszeniert. Irritation säht Wall im Detail: in „The Stumbling Block” dem unmotivierten Eishockey-Dress oder dem Anzugträger am Boden, wo in solch geleckter Umgebung sonst höchstens Penner oder Bettler hocken. Auf einem seiner anderen Bilder lauert ein Mann hinter einem PKW in der Position eines Schützen mit Gewehr im Anschlag – nur ohne Gewehr.

Ihre Interviews führen die Macher von „Still Lives” an Orten, die verschiedene Gesichter einer Stadt widerspiegeln: In-Bezirke, Randgebiete, soziale Brennpunkte. Nach Bukarest, Halle, Lille und Essen ist Berlin die fünfte Station von „Still Lives”. Schad, Gies und Pocheron leben und arbeiten hier. Trotzdem mussten sie feststellen, wie wenig sie von der eigenen Stadt kennen. Der durchschnittliche Lebensradius reicht in der Tanzszene eben doch eher von Prenzlauer Berg bis Kreuzberg als von Charlottenburg bis Marzahn. Und obwohl im Marzahner Erholungspark kaum jemand so redselig war wie die entspannten Kreativen im Prenzlauer Berg, ging Good Work weiter auf Stimmen-Fang. Entstanden ist eine akustische Kartografie und, obwohl es doch eigentlich nur um ein Foto geht, ein sehr intimer Soundtrack einer Stadt und ihrer Menschen. Jeff Walls Bild selbst ist auf der Bühne übrigens nicht zu sehen. Wozu auch – am Ende nimmt ohnehin jeder eine eigene Version davon im Kopf mit nach Hause.

21., 22., 26.-29.7., 20 Uhr, Sophiensæle. Konzept und Realisierung: Frédéric Gies, Manuel Pelmus, Bruno Pocheron, Isabelle Schad, mit 30 Berliner Akteuren. Eintritt 13, erm. 8 Euro.

Sophiensæle
Constanze Klementz 21.07.2007 | 18:02 Uhr kommentieren

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